Artikel „Nie wieder Überstunden?“

Für die Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen vom 14.05.22 wurde ich zu einem wichtigen Thema interviewt, nämlich „Nie wieder Überstunden?“ 

Hier meine wichtigsten Tipps zu dem Thema, die auch über das hinausgehen, was im Artikel aufgenommen wurde.

Sind Überstunden per se schlecht? Ab wann sollte man als Arbeitnehmer konkret die Reißleine ziehen oder gerichtlich vorgehen?

In Zeiten von Work-Life-Blending gibt es durchaus etliche Menschen, die ganz bewusst die Grenzen zwischen Arbeit und Privat fließend halten wollen, und mit Spaß oder dem Gefühl, an etwas Größerem mitzuarbeiten, so mache Überstunde freiwillig leisten. Manche Menschen freuen sich sogar über das Gehaltsplus am Monatsende, zusätzlichen freien Tagen oder dem Gefühl, Kollegen geholfen zu haben. Kritisch wird es immer dann, wenn die eigene Gesundheit und soziale Kontakte leiden. Oder wenn Unternehmen bewusst eine Überstundenkultur aufbauen, in der Einzelne aus Angst vor Repressalien mitmachen. Checken Sie dann Ihren Arbeitsvertrag sowie Betriebsvereinbarungen und fragen Sie im Zweifel beim Betriebsrat nach. 


Was können Arbeitnehmer:innen tun, wenn Überstunden zum betrieblichen Standard gehören?

Jede Organisationskultur hat ihre eigenen Zeitfresser. In sehr kommunikativen auf Kooperation bedachten Unternehmen verlieren Mitarbeiter oft Zeit durch ineffiziente Arbeitsgruppen und zu häufige Meetings mit umständlichen Abstimmungsschleifen. In sogenannten ‚Control-Kulturen‘ führen die zahlreichen Normen und Vorschriften gerne mal zu umständlichen Prozessen. In kreativen, innovativen Unternehmen wird oft das Rad ständig neu erfunden. Deshalb sollte sich jeder die Frage stellen: In welche Kultur passe ich und mit welchen dort typischen Zeit-Dilemmata kann ich am ehesten leben? Jeder Einzelne trägt ein Stück der Verantwortung dafür, die Organisationskultur mitzugestalten und das richtige Maß zu finden. Dazu gehört auch, seinen eigenen Umgang mit der Zeit zu reflektieren: Wo bin ich vielleicht zu über-genau oder wie viel „zeitliche Verschwendung“ produziere ich durch unnötige Meetings oder ineffiziente Arbeitsgruppen mit?


Wie reagiere ich, wenn sich selbst nach einem Gespräch mit dem/der Vorgesetzten nichts verändert?

Tracken Sie Ihre Arbeitszeit mit einer eigenen Tabelle oder einer App über mehrere Wochen exakt mit, und berechnen Sie, wieviel Zeit Sie mit welcher konkreten Aufgabe verbringen. Lernen Sie „Nein“ zu sagen beziehungsweise ein „Prioritäten-Jongleur“ zu werden, und dem Chef die Auswirkungen von Prioritätenverschiebungen deutlich zu machen: „Lieber Chef, aktuell sitze ich noch am Projekt A, ich kann gerne Projekt B vorziehen, dann hat das aber für A folgende Auswirkungen, möchten Sie das?“ Gleichzeitig ist dann die innere Abgrenzung hochgradig entscheidend, denn wer sich innerlich weiter für beide Projekte verantwortlich fühlt, hat verloren – hier gilt also radikale Selbstfürsorge. Nach dem Motto „gemeinsam sind wir stärker“ macht es oft mehr Sinn, sich im Kollegenkreis zu Lösungen auszutauschen und dann zum Chef zu gehen. 

Was gilt es in punkto Überstunden noch zu beachten?

Oft spielen unbewusste Glaubenssätze eine große Rolle, wenn Menschen zu vielen Überstunden bereit sind, oder diese sogar ohne Wissen der Chefs zu Hause ableisten. Ich kenne Sätze von Klienten wie: „Es liegt an mir, ich bin zu langsam.“ oder „Ich muss allem gerecht werden.“  Hier gilt es, sich mit den eigenen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen oder der Angst vor fehlender Anerkennung auseinanderzusetzen und diese zu verändern.

Oft haben Überstunden nichts mit falscher Planung zu tun. Wir müssen lernen, dass wir nicht ständig zu 100% effizient sein können, auch wenn uns dies im allgemeinen Selbstoptimierungswahn eingeredet wird. Wer einen solchen Anspruch hat, landet irgendwann in einer Burnout-Klinik und wundert sich, warum dort alle Mitpatienten ebenfalls sämtliche Zeitmanagement-Ratgeber gelesen haben. 

Am Wichtigsten ist immer die Prophylaxe: Schauen Sie sich das Unternehmen genau an, bei dem Sie sich bewerben, und fragen Sie im Vorstellungsgespräch konkret nach. Wenn Sie eine Absage bekommen, weil Sie nach der Organisations- und Überstundenkultur gefragt haben, können Sie im Grunde froh sein. 

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